Der fürchterliche Wolf: Das Märchen vom stark sein müssen 🐺

Es gibt Kinder, denen die traditionellen Märchen nicht mehr vorgelesen werden. Die wissen, zum Glück, vielleicht gar nicht, dass der Wolf im Märchen als das Böse schlechthin gilt, dem Kinder besser erst gar nicht begegnen.

Aber auch, wenn die Märchen der Brüder Grimm manchen Kleinen heute unbekannt sind, üben starke, sogar grausame Tieren und Fabelwesen eine Negativ-Faszination aus. Wenn eine*r im Spiel der feuerspeiende Drache ist, der/dem kann so schnell nichts passieren.

Es kann schwer vermittelbar sein, dass physische Stärke – und besonders ihre Ausübung – nicht (mehr) wichtig sind, um sich stark zu fühlen. Das Rollenbild des starken Jungen ist heute zwar soweit, dass es nicht mehr in Ordnung ist, sich zu schlagen. Aber Jungen, die lieber die Eisprinzessin mögen als Star Wars oder Ninjago, die gehen gar nicht.

Einige denken jetzt vermutlich: Naja, was solls? Dann gibt es halt diesen Gruppenzwang – ist doch egaaaal.

Das Schlimme aber ist, dass Jungen, die auch mal was anderes wollen als die meisten anderen, geärgert und ausgegrenzt werden. Und sei es nur farblich, schon rot kann hart an der Grenze sein. Besonders in Kindergärten, in denen Geschlechtergerechtigkeit keinen Grundwert darstellt, den Erzieher*innen vermitteln und schützen, können Kinder dann ziemlich allein dastehen. Es braucht nur eine*r kommen und sagen: Deine Mädchenklamotten (Mädchenspielsachen/Mädchentrinkflasche …) sind total bäh!

Ohne den Rückhalt durch Erwachsene, also der Erzieher*innen, wird das betroffene Kind das Spielzeug, die Hose oder die Elsa-Trinkflasche vielleicht nie mehr zum Kindergarten mitbringen – und eventuell das Verhalten – oder zumindest das Aussehen – ändern, aus dem sehr verständlichen Wunsch, dazuzugehören.

Mädchensachen sind herabwürdigend

Wenn Mädchen „Jungssachen“ gut finden und sie mit in den Kindergarten bringen, ist das scheinbar akzeptierter als andersherum. Und warum? Um es mit Madonna zu sagen:

„Girls can wear jeans and cut their hair short, wear shirts and boots ‚cause it’s okay to be a boy. But for a boy to look like a girl is degrading ‚cause you think that being a girl is degrading.“

Zum Glück gibt es mittlerweile viele, für die dieses binäre Geschlechterbild ausgedient hat. Und viele Geschichten, die dies unterstützen. Zum Beispiel diese:

Vom Wolf, der auszog, das Fürchten zu lehren

Um was geht es

Der junge Wolf hat es nicht leicht: Sein Vater ist zutiefst frustriert über seine zwei älteren Brüder, denn einer kümmert sich um sieben Geißlein, der andere hat sich mit einer Großmutter angefreundet, statt sie aufzufressen.

Des Wolfsvaters ganze Hoffnung lastet auf den Schultern des jungen Wolfs, der sich selbst und dem Vater gern beweisen möchte, dass er natürlich der furchterregende König des Waldes ist.

Der junge Wolf zieht voll motiviert in die Wildnis hinaus und begegnet Tieren und Fabelwesen. Nur fürchten tun sie sich nicht vor ihm – im Gegenteil: Sie mögen den Wolf und versprechen sich Schutz und eine Verbesserung des Waldes durch ihn. Denn die wirklich furchteinflößende Gestalt, die dort lebt, und schon viel Schlimmes angerichtet hat, ist die rote Räuberin.

Irritiert und neugierig begibt sich der Wolf auf ihre Suche und findet heraus, dass das Fürchterliche an der Räuberin ihr Benehmen ist, das im starken Kontrast steht zu dem, was sie optisch zu sein scheint, nämlich ein kleines, (liebes) Mädchen.

Diese Erkenntnis macht sich der Wolf zunutze und so wird er tatsächlich zum König des Waldes – ohne dass auch nur eine*r vor ihm Angst haben muss.

 

Was wir davon halten

„Vom Wolf, der auszog, das Fürchten zu lernen“ ist das letzte Buch seiner sogenannten Wolf-Trilogie und gefällt mir sogar noch besser als „Rotkäppchen hat keine Lust“.

Der junge Wolf erlebt sein persönliches Coming-of-Age, als er in die Welt hinauszieht und versucht, es dem Vater (!) recht zu machen und ein böser Wolf zu werden.

Doch draußen in der Welt muss er feststellen, dass er nicht der ist, für den er sich hielt – kein großer, böser Wolf, sondern ein knuffiger, pelziger Typ, an den sich die Wesen des Waldes gern ankuscheln. JA, ankuscheln!

Er schleicht sich mehrmals an, mit dem Plan, ernsthaft den bösen, fürchterlichen Wolf zu mimen. Aber alle, die er trifft, sind erleichtert und froh, dass es nur er, der wuschelige Wolf, ist, und nicht die gefürchtete rote Räuberin.

Der Wolf ist völlig frustriert von der Furchtlosigkeit seiner potentiellen Opfer und sieht sein Ziel, der König des Waldes zu werden, in weite Ferne schwinden. Aber er ist auch neugierig: Wer ist diese rote Räuberin, vor der alle solchen Respekt haben? Kurzerhand zieht er los, um sie zu suchen.

Und er kommt ihrem Geheimnis auf die Schliche: Er findet heraus, dass sie „nur ein kleines Mädchen“ ist. Aber das Schreckliche an ihr ist ihr gar nicht mädchenmäßiges Verhalten: von Beißen über Stehlen, Verwüsten und Plündern ist der roten Räuberin nichts fremd.

Sein Plan geht auf

Da kommt dem Wolf die zündende Idee: Was, wenn auch er sich nicht stereotyp-wölfisch verhielte? Stattdessen freundlich und offenherzig auf die rote Räuberin zugehen würde?

Der wölfische Plan geht auf: Der Wolf tritt durch die Burgtür und schreitet auf die Räuberin zu, mit der sichtbaren Absicht, sie zu küssen.

Die rote Räuberin flieht, denn so etwas Ekliges und Abstoßendes hat sie noch nie erleben müssen.

 

Fazit: tolles Buch, weil jede*r so sein darf, wie sie/er wirklich ist

Die rote Räuberin und auch der junge Wolf sind interessante Beispiele dafür, wie sehr es Menschen irritiert (und sogar verängstigt), wenn jemand sich nicht stereotypisch verhält.

Man kann sagen: Die rote Räuberin und der Wolf dekonstruieren tradierte Konzepte der Geschlechtsidentität und konstruieren sie neu, beziehungsweise entgegen der Erwartungen, entgegen der Tradition.

Das tun sie, weil sie nicht in die gesellschaftlich für sie vorgesehenen Konzepte passen und somit ihre Identität selbst erschaffen mussten.

Dadurch sind sie erfolgreich: Die rote Räuberin zunächst als furchteinflößende, starke Gestalt, der andere dienen müssen und der Wolf letztendlich durch seine (nicht körperliche) Stärke, seinen Trick, durch den er die Bewohner des Waldes von der roten Räuberin befreien konnte.

 

Sebastian Meschenmoser
Vom Wolf, der auszog, das Fürchten zu lehren
Illustrationen: Sebastian Meschenmoser
32 Seiten
EUR-D 12,99/EUR-A 13,40
ISBN 978-3- 522-45897-9
Ab 4 Jahren
Thienemann Verlag

 

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